Es ging um die alte Frage nach der Beziehung zwischen Körper und Geist. Genauer gesagt darum, wie sich Körpergefühl und Gleichgewichtssinn auf schulische Leistungen auswirken. Im Auftrag des Hessischen Kultusministeriums gingen seit 2007 Wissenschaftler verschiedener Hochschulen und Universitäten dieser Frage nach. In dem interdisziplinären Projekt „Schnecke – Bildung braucht Gesundheit“, benannt nach dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr, arbeiteten sie sechs Jahre lang mit 8.500 hessischen Schülern aller Schulformen. Nun liegt die abschliessende Studie vor, deren Ergebnisse den Alltag an Deutschlands Schulen verändern könnten. Sie belegt: Es besteht ein Zusammenhang zwischen einem gut ausgeprägten Gleichgewichtssinn und guten Schulnoten. Und: Die kognitiven Leistungen lassen sich durch ein gezieltes Balance-Training verbessern.
Im Rahmen des «Schnecke»-Projekts befassten sich die Wissenschaftler mit dem Hör-, dem Gesichts- und dem Gleichgewichtssinn ihrer jungen Probanden. Diese drei Sinne stehen in engem Zusammenhang und beeinflussen, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, lernen und sich verhalten. Sie sind für die körperliche und seelische Gesundheit ebenso wichtig wie für die geistige Leistungskraft.
Phase I: Bestandsaufnahme zu Hör- Seh- und Gleichgewichtssinn
Das interdisziplinäre Projekt durchlief zwei Phasen. In Phase I von 2007 bis 2009 ging es zunächst um eine gesundheitliche Bestandaufnahme. Die Wissenschaftler testeten den Hör-, Seh- und Gleichgewichtssinn der rund 8.500 teilnehmenden Schülerinnen und Schülern im Alter von 5 bis 19 Jahren. Das Ergebnis: Überraschend viele Jungen und Mädchen, die in den Balancetests schlecht abschnitten, wiesen auch signifikant schlechtere Noten in Deutsch, Mathematik und Sport auf als diejenigen, die keine Gleichgewichtsschwierigkeiten hatten.
Phase II: Tägliches Gleichgewichtstraining
In Phase II des «Schnecke»-Projekts untersuchten die Wissenschaftler diesen Zusammenhang näher. Sie gingen der Frage nach: Lassen sich Schulleistungen durch gezieltes Gleichgewichtstraining verbessern? Um dies herauszufinden, wurden Schülerinnen und Schüler aus 27 zweiten Grundschulklassen in zwei Gruppen eingeteilt: 17 Klassen bildeten die Interventionsgruppe, in welcher der Gleichgewichtsinn gezielt trainiert wurde, die 10 übrigen Klassen waren die Kontrollgruppe, in der eine solche Förderung nicht stattfand.
Die Schüler der Interventionsgruppe absolvierten mehrfach am Tag Übungen des Gleichgewichtskalenders von Borgmann Media, ein in den Unterricht integrierbares Programm zum Training des Gleichgewichts, das täglich insgesamt ca. 15 Minuten in Anspruch nahm. Zu dessen Unterstützung setzten die Lehrkräfte ausserdem ein Mini-Trampolin von Bellicon sowie die interaktive Bewegungssoftware Wii Fit Plus und das Balance Board von Nintendo ein. Schon nach wenigen Wochen berichteten die Pädagogen über Veränderungen im Verhalten ihrer Schülerinnen und Schüler. Besonders erwähnenswert: Die Kinder waren aufmerksamer, ruhiger und zeigten ein positives Emotional- und Sozialverhalten.
Abschliessende Test belegen die Wirkung des Trainings
Am Ende der 18-monatigen Phase II prüften die Wissenschaftler alle 27 Klassen erneut mit normierten Schulleistungstests. Es galt festzustellen, ob die Interventions- und die Kontrollgruppen sich unterschiedlich entwickelt hatten. Die Abweichungen wurden mit statistischen Verfahren auf ihre Signifikanz überprüft. Die Tests fanden statt
- zur physisch-kognitiven Leistung (Gleichgewichts-, Lese- und Rechtschreibtest sowie Rechentests)
- zu psychisch-sozialen Komponenten (u.a. soziale Integration, Lernfreude, Klassenklima)
- zur Grob- und Feinmotorik (u.a. Auge-Hand-Koordination).
Erwartungsgemäss wiesen die Kinder aus der Interventionsgruppe, anders als die der Kontrollgruppe eine Verbesserung des Gleichgewichtssinns auf. Darüber hinaus zeigte sich aber auch, dass sie ihre Lesefähigkeit signifikant gesteigert hatten. Im Vergleich zu den Kindern der Kontrollgruppen hatten sie zudem ihre Rechtschreibfähigkeiten verbessert. Auch im Fach Mathematik ist jedes Kind aus der Interventionsgruppe signifikant besser geworden. Darüber hinaus berichteten die Lehrkräfte von erhöhter Lernfreude und einem besseren Klassenklima. Dies spiegelte sich auch in den Antworten der Kinder in den entsprechenden Tests wider.
Die Studie «Schnecke – Bildung braucht Gesundheit» belegt also, dass sich ein gut ausgebildeter Gleichgewichtssinn und regelmässiges Gleichgewichtstraining positiv auf die schulischen Leistungen auswirken. Die in der Studie eingesetzten pädagogischen Fördermassnahmen lassen sich flächendeckend und ohne grossen Aufwand oder besonderen Raumbedarf in den Schulalltag integrieren.
Mehr zum Projekt «Schnecke – Bildung braucht Gesundheit» erfahren Sie unter bildung-schnecke.de. (pd/tom)